INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN/BETHEL
Minsk-Projekt |
proWerk
Arbeit und Berufliche Rehabilitation
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Werkstattgebäde |
Eine Werkstatt für behinderte
Menschen
im Kirchlich-Sozialen Zentrum der
Russisch-Orthodoxen Gemeinde
‚Zur Ikone der Gottesmutter aller Betrübten Freude’
in Minsk, Belarus
Wie fing alles an?
Im
Juni 1991 beteiligte sich eine Gruppe von epilepsiekranken Jugendlichen
aus Bethel an einer großen Versöhnungsfahrt nach Minsk in Weißrussland.
Anlass dazu war der 50. Jahrestag des Einmarschs der Deutschen
Wehrmacht in die Sowjetunion. In Minsk erkündigten sich die
Jugendlichen aus Bielefeld immer wieder nach der Situation von
Menschen mit Behinderungen in Weißrussland. Bald wurde die Gruppe
mit einem Priester der russisch-orthodoxen Kirche bekannt gemacht,
der den Auftrag hatte, sich auch um behinderte Menschen zu kümmern.
Dieser Kontakt war der Anfang einer Bekanntschaft, die sich
in kurzer Zeit zu einer umfassenderen Partnerschaft entwickeln
sollte. | Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Werkstatt | Kurz nach diesem Zusammentreffen erhielt der Priester
Igor Korostelev den Auftrag, im Westteil der Zwei-Millionen
Stadt Minsk eine neue Gemeinde zu gründen. Es sollte ein diakonisches
und kirchliches Zentrum zum Gedenken an die Opfer von Tschernobyl
entstehen. Der 5. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe wurde
zum Gründungstag der Russisch-Orthodoxen Gemeinde ‚Zur Ikone
der Gottesmutter aller Betrübten Freude' im 300 000 Einwohnern
zahlenden Stadtteil Frundiski, der für viele belarussische Familien
aus den kontaminierten Gebieten zu einer neuen Heimat geworden
war.. Anfangs stand auf dem Grundstück nur ein zerschlissenes
Militarzelt, wo Gottesdienste gefeiert wurden. Später wurden
dort auch die Altkleider verteilt, die zusammen mit anderen
Hilfsgütern aus Bethel kamen. Von Anfang an bestand der Plan,
dass in dem Zentrum auch eine Werkstatt für behinderte Menschen
errichtet werden sollte. Dort, wo die Gemeinde von Jungen und
Alten zusammenkommt, wo Christen Gottesdienste feiern und lernen,
dort sollten auch behinderte Menschen einen Raum zum Leben und
Arbeiten erhalten, einen Ort der Gemeinschaft erleben. Wer sind
die Beteiligten und was hat diese bis heute bei dem Projekt
bewegt? Zu Beginn basierte die Zusammenarbeit wesentlich auf
privaten Beziehungen von Mitarbeitern Bethels mit Menschen in
Belarus. Die Menschen in Belarus hatten nach Zusammenbruch der
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Junge Frauen stricken Produkte
zum Verkauf auf Basaren |
Sowjetunion einen Hunger nach neuen Ideen. Man suchte nach neuen
Werten, die das entstandene Vakuum sinnvoll füllen könnten.
In den ersten Jahren der Beziehung zwischen der Minsker Gemeinde
mit ihren deutschen Partnern kamen Jugendliche der Gemeinde
jeweils im Sommer für mehrere Wochen nach Bielefeld. Halbtags
arbeiteten sie mit in Einrichtungen Bethels. Hier gewannen sie
eine neue Einstellung zu behinderten Menschen. Sie kamen ja
aus einer Gesellschaft, die nahezu 70 Jahre lang Behinderte
offiziell nicht zur Kenntnis genommen hatte. In der Öffentlichkeit
waren Menschen mit Behinderungen nicht zu sehen. Wenn sie nicht
zu Hause, oftmals isoliert, leben konnten, waren sie in staatlichen
psychiatrischen Institutionen untergebracht, in denen sie unter
meist sehr schlimmen Bedingungen nur verwahrt werden konnten.
Die in Bethel gewonnenen Erfahrungen vom selbstverständlichen
Miteinander von behinderten und nicht behinderten Menschen ließen
in der Minsker Gemeinde ein offenes Klima gegenüber Menschen
mit Behinderung entstehen. Gruppen von Bewohnern staatlicher
Institutionen wurden in die Gottesdienste eingeladen. Jugendgruppen
gingen in staatliche Heime, um den dort lebenden Menschen eine
Freude zu machen. Gemeinsame Feste wurden anfangs in dem kommunalen
Kulturhaus, später in eigenen Räumen der Gemeinde organisiert.
Seit 1997 werden jeden Samstagvormittag behinderte Kinder, die
ausschließlich in ihren Familien, meistens bei ihren allein
erziehenden Müttern leben, zum Spielen und zum gemeinsamen Lernen
in die Gemeinde einladen. Als das Gemeindehaus fertig gestellt |
Jugendliche im Berufsbildungsbereich-Holz |
war, wurden provisorisch eine Textilwerksstatt, eine Druckerei
und eine Kerzenwerkstatt eingerichtet. Bis zu 12 behinderte
junge Menschen fanden hier eine Betätigung, sie wurden hinein
genommen in das Leben und Arbeiten einer großen Gemeinde. Durch
glückliche Fügung und durch die Vermittlung Betheler Mitarbeiter
konnten die Pläne zum Bau einer Werkstatt für behinderte Menschen
als Teil des kirchlichen Zentrums realisiert werden. Die deutsche
UNESCO Kommission mit der RTL Spendenaktion "Kinder in Not"
stellte unter der Patenschaft von Minister a.D. Hans-Dietrich
Genscher 1.020.000 DM zur Verfügung. Die Walter-Gastreich-Stiftung
finanzierte die Innenausstattung mit 150.000 DM, das Diakonische
Werk der EKD und die Evangelische Kirche von Westfalen gaben
Zuschüsse von insgesamt 150.000 DM. Mitarbeiter aus Bethel wirkten
bei Planung und Bau der Werkstatt mit. Sie leisteten Hilfestellung
bei der Entwicklung des Werkstattkonzepts, vermittelten praktische
Hilfen und Sachspenden und unterstützten schließlich die Inbetriebnahme
der neuen Werkstatt. Worin besteht das Projekt?
Harmonisch eingebunden
in das Gemeindezentrum bietet die Werkstatt im Endausbau auf
drei Ebenen Raum für etwa 120 Ausbildungs- und Arbeitsplatze.
Neben den Arbeitsräumen der Werkstatt sind auch die notwendigen
Sozial- und Therapieräume vorhanden. Außerdem verfügt
das Gemeindezentrum über eine Küche und einen Speisesaal,
in dem alle Beschäftigten der Werkstatt täglich ein
Mittagessen erhalten. Im Sommer 2002 nahm die Werkstatt zunächst
mit 36 vorwiegend geistig behinderten Jugendlichen und jungen
Erwachsenen ihren Betrieb auf. Die bereits in der provisorischen
Werkstatt aufgebaute Textilabteilung, die Kerzenabteilung und
die Druckerei stellten diese ersten Arbeitsplätze. Die
pädagogische und rehabilitative Arbeit wurde und wird sowohl
durch vorhandenes Fachpersonal als auch durch die Zusammenarbeit
mit den Betheler Werkstatten proWerk systematisch weiter entwickelt.
Dank des Förderprogramms der deutschen Bundesregierung
für Belarus konnten im Herbst 2002 die konzeptionellen
und didaktischen Grundlagen für die berufliche Bildung
von geistig behinderten
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Einpacken von Wachsresten |
Jugendlichen entwickelt und sogleich in die Praxis umgesetzt
werden. Im Dezember 2002 nahm der Berufsbildungsbereich seinen
Betrieb auf und es konnten weitere 24 behinderte Menschen aufgenommen
werden. Die zurzeit betreuten 60 jungen Menschen kommen zumeist
aus ihren Familien im Stadtteil Frundiski. Viele von ihnen lebten
bisher isoliert in ihren Wohnungen, weil ihre Mutter aus wirtschaftlichen
Grunden berufstatig sind. Jetzt konnen auch sie in der neuen
Werkstatt am gesellschaftlichen Leben teilhaben und einer sinnvollen
Beschaftigung nachgehen. Daruber hinaus arbeitet die Kirchengemeinde
mit einer Tagesstatte für Kinder zusammen, die seit 5 Jahren
von Beladpi, der Vereinigung von Eltern behinderter Kinder in
Belarus in der Nahe eingerichtet wurde. Nach dem Umzug in die
neue Werkstatt hat sich das Produktspektrum der verschiedenen
Abteilungen erweitert. In der Kerzenwerkstatt werden unterschiedliche
Kerzen für den gottesdienstlichen Gebrauch im orthodoxen Gemeindeleben
und ein wachsendes Sortiment an Schmuckkerzen gefertigt. Als
Techniken kommen das Ziehen, Gießen und Tauchen zur Anwendung.
In der Druckerei werden kirchliche Erzeugnisse wie Gemeindebriefe
oder religiose Broschuren hergestellt. Eine Buchbinderei, die
auch alte Bucher restauriert, ist angeschlossenen. Die Textilwerkstatt
hat sich zum einen spezialisiert auf der Anfertigung von liturgischen
Gewandern, zum anderen auf die Herstellung von Textilien für
den Alltag von Arbeitshandschuhe uber einfache Blusen bis zu
Stoffpuppen. Im Berufsbildungsbereich werden verschiedene Spielzeuge
und Geschenkartikel aus Holz und Textil hergestellt. Der Verkauf
der Produkte beschrankt sich aus rechtlichen Grunden fast ausschließlich
auf den Raum der Kirche und auf Basare. Als weitere Arbeitsfelder
werden in Kurze eine Holzabteilung, der hauswirtschaftliche
Bereich und die Bewirtschaftung des angeschlossenen Gartens
in die Arbeitsangebote einbezogen, spater noch eine Metallabteilung.
für alle genannten Arbeitsbereiche wird es eine den betreuten
Menschen angepasste Ausbildung geben. Ziel wird es sein, moglichst
viele Menschen nach einer Ausbildungszeit von 2 Jahren auf den
allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln. für diejenigen, für
die dieser Schritt zu groß ist, werden naturlich Dauerarbeitplatze
in den Abteilungen angeboten. Der Verkauf der dort gefertigten
Produkte ist zur wirtschaftlichen Absicherung der Werkstatt
notwendig, deckt jedoch nur einen geringen Teil der Gesamtkosten.
Sozialpolitische Rahmenbedingungen in BelarusDas Bewusstsein
für die Notwendigkeit der Betreuung und Rehabilitation von geistig
behinderten Menschen wachst auf politischer Ebene in Belarus.
Bethel hat in den vergangenen Jahren gemeinsam mit der russisch-orthodoxen
Kirche in Belarus und der nationalen Elternvereinigung Belapdi
unter Einschluss der deutschen Bundesvereinigung Lebenshilfe |
Der Metropolit von Belarus S.E. Filaret
halt den Festgottesdienst zur Einweihung der Werkstatt |
vier sozialpolitische Tagungen organisiert und finanziert. In
diesem Zusammenhang besuchten hochgestellte Sozialpolitiker
aus Belarus Deutschland und Holland. Sie nahmen die Gelegenheit
wahr, sich auch in Bethel eine Bild von den Moglichkeiten beruflicher
Rehabilitation von Menschen mit geistiger Behinderung zu machen.
Auch in Belarus sieht man heute die Notwendigkeit der Teilhabe
von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft und am
Arbeitsleben. Die okonomischen Bedingungen jedoch lassen zurzeit
kaum Entwicklungen zu. Noch ist vollig offen, ob und wann der
Staat einen Beitrag zur Finanzierung der Werkstatt für geistig
Behinderte im Kirchlichen Zentrum wird leisten konnen.Besondere
Ereignisse auf dem Weg der Realisierung des Werkstattprojekts Nach der Bereitstellung von Spendengeldern der deutschen UNESCO-Kommission
zusammen mit der RTL Spendenaktion "Kinder in Not" als Folge
der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wurde im April 1997 zwischen
Bethel und der Minsker Gemeinde unter Beteiligung des Metropoliten
der russisch-orthodoxen Kirchen in Weißrussland ein Vertrag
zur Errichtung einer Werkstatt für behinderte Menschen abgeschlossen.
Die Realisierung dieser Baumaßnahme war mit großen Schwierigkeiten
verbunden. Die weißrussische Okonomie funktioniert noch nach
altem Muster. Die inflationare Entwicklung in den Jahren der
Umsetzung ist kaum zu beschreiben. Die uberkommenen Strukturen
der Planwirtschaft verhinderten zugiges Arbeiten. Da die finanziellen
Mittel begrenzt waren, konnte mit Geld nicht jede Schwierigkeit
uberwunden werden. Dank vieler Sachspenden konnte jedoch immer
wieder Entlastung geschaffen werden. Schließlich fand im Mai
2001 in Anwesenheit des Metropoliten der russisch-orthodoxen
Kirche in Belarus und des Prases der Evangelischen Kirche von
Westfalen ein Fest zur Fertigstellung der Außenarbeiten statt.
Die Vertreter der deutschen UNESCO und viele weitere Gaste feierten
mit. Bis zur Inbetriebnahme sollten jedoch noch zwei Jahr ins
Land gehen. Am 6. Juni 2003 schließlich wurde die offizielle
Inbetriebnahme der Werkstatt gefeiert. An diesem Fest nahmen
wiederum der Metropolit von Weißrussland, der Botschafter der
Bundesrepublik Deutschland und viele Gaste aus Minsk teil. Auch
eine Gruppe von 15 behinderten Beschaftigten von proWerk war
gemeinsam mit dem Vorstandsvorsitzenden Bethels angereist. Die
Inbetriebnahme der Werkstatt bot den Anlass zur Unterzeichnung
einer Partnerschaftsvereinbarung zwischen Bethel und der Gemeinde
‚Zur Ikone der Gottesmutter aller Betrubten Freude', die den
Betrieb der Werkstatt zunachst auf die Dauer von zwei Jahren
sichern soll. Welche Bedeutung hat das Projekt für die orthodoxe
Kirchengemeinde in MinskDie orthodoxe Kirche hatte bis zur
Revolution im Jahre 1917 eine große diakonische Tradition. Nach
dem Zusammenbruch der kommunistischen Gesellschaft in den Jahren
1987/1989 darf die Kirche wieder soziale Aufgaben in der Gesellschaft
wahrnehmen. In der neuen Gemeinde "Aller Betrubten Freude" gehoren
Menschen mit Behinderung zum Gemeindeleben. Die Gemeinde kann
ein Modell dafür sein, was als Vision für eine humane Gesellschaft
immer wieder neu zu beschreiben und zu realisieren ist: Behinderte
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Priester Igor Korostelev
leitet die Gemeinde in Minsk | Menschen sind mit ihren Gaben zu achten, sie konnen teilhaben
an der gemeinsamen Arbeit, sie sind Teil der Gesellschaft. Die
russisch-orthodoxe Kirchengemeinde im Stadtteil Frundiski betreibt
mit ihrem sozial-diakonischen Engagement Pionierarbeit. für
die Gemeinde und ihre haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter ist die Begleitung durch ihre deutschen Partner
sehr wichtig. Unter anderem auch dafür, dass in der noch sehr
labilen belarussischen Gesellschaft die kirchlich-soziale Arbeit
nicht von staatlichen Regulierungen dominiert wird. Die Werkstatt
für behinderte Menschen und die sozial-diakonische Arbeit in
den umgebenden Stadtteilen findet in der belarussischen Offentlichkeit
Beachtung. Die vielen Besucher von Kirche und Gemeindezentrum
nehmen in ihrer Mitte Menschen mit Behinderungen wahr. Dieses
Lernen zum selbstverstandlichen Umgang mit Menschen, die anders
sind, ist wertvoll. Bethel als Modell für das Zusammenleben
von Menschen mit und ohne Behinderung steht Pate - auch im Stadtteil
Frundiski in Minsk! Wie wird die diakonische Arbeit der Gemeinde
für die Zukunft abgesichert sein? Diese Werkstatt wird auch
nach der Inbetriebnahme auf absehbare Zeit auf Unterstutzung
aus Deutschland angewiesen sein. Die wirtschaftliche Situation
in Belarus hat sich in den vergangenen 10 Jahren stetig verschlechtert,
eine staatliche Bezuschussung ist nicht in Sicht und der Erlos
aus dem Verkauf der Produkte deckt nur einen Bruchteil der laufenden
Kosten. Bethel hat sich verpflichtet, neben der kollegialen
Beratung durch gegenseitige Besuche von Fachkraften und auch
behinderten Beschaftigten die Werkstatt zunachst für die Dauer
von zwei Jahren auch durch Ubernahme der Personalkosten des
Werkstattpersonals zu unterstutzen. Die Kosten für die Unterhaltung
der Gebaude trägt die Minsker Gemeinde. Doch benötigt die Werkstatt
auch weiterhin Arbeitsmaterialien, Ausstattungs- und Betriebsmittel
wie Maschinen. Zur Sicherung der täglichen Versorgung der behinderten
Werkstattbeschäftigten mit einem warmen Mittagessen und der
weiteren diakonische Arbeit der Gemeinde sind Geld-, Lebensmittel-
und Sachspenden dringend nötig. 15. Marz 2004 Herbert Wohlhüter,
Günter Bornmann
Weiterführende Informationen:
v. Bodelschwingische
Anstalten Bethel Geschäftsführung proWerk Günter Bornmann ‚Werkstatt
Minsk' Quellenhofweg 25 33617 Bielefeld Tel. 0521/ 144-1816
guenter.bornmann@bethel.de
www.bethel.de
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